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德国明镜周刊原文
10.12.2007
Revolutionär Seiner Majestät
Lenin wollte den Zaren stürzen, Kaiser Wilhelm II. einen Sieg an der Ostfront erzielen. Bislang unbekannte Dokumente belegen nun das Ausmaß der geheimen Zusammenarbeit während des Ersten Weltkriegs. Jahrelang unterstützte das Kaiserreich die Bolschewiki mit Millionen und Logistik.
Das wohl am besten gehütete Geheimnis des Ersten Weltkriegs endet am 4. November 1918 mit einer Farce. Auf Anweisung von ganz oben schmuggeln Berliner Polizisten revolutionäre Flugblätter in eine Kiste des sowjetischen Diplomatengepäcks. Als ein Kurier im Bahnhof Friedrichstraße die Utensilien mit dem Lift befördern will, zerbricht die Kiste. Eine Flut von Propagandamaterial mit überschriften wie "Schlagt die Junker tot!" ergießt sich auf den Bahnsteig.
Unverzüglich protestiert Moskaus Botschafter Adolf Abramowitsch Joffe im Auswärtigen Amt gegen die inszenierte Provokation. Vergebens - kühl eröffnet ihm der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, wie der deutsche Außenminister genannt wird, dass Joffe und seine Diplomaten Deutschland spätestens am nächsten Abend verlassen müssen. Die Sowjets trifft das "wie ein Blitz aus heiterem Himmel", so ein Mitarbeiter Joffes.
Zwei Tage nach dem Zwischenfall wird die Residenz "Unter den Linden" der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), des Vorläufers der Sowjetunion, geschlossen.
Die Weltöffentlichkeit überraschte der Abbruch der diplomatischen Beziehungen wenig. Seit der Oktoberrevolution im Vorjahr regierte in Russland Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Und der radikale Parteiführer der Bolschewiki ließ keinen Zweifel daran, dass er die Weltrevolution anstrebte und dafür Kaiser Wilhelm II. vom Thron zu stoßen gedachte.
Insgeheim freilich - und das wusste nur eine Handvoll Eingeweihte - endete mit dem Abbruch der Beziehungen auch das wohl eigenartigste politische Zweckbündnis des 20. Jahrhunderts: zwischen den russischen Revolutionären um Lenin und den deutschen Imperialisten um Wilhelm aus dem Hause Hohenzollern.
Es war die Komplizenschaft ideologischer Todfeinde, betrieben voller Hinterlist und intriganter Raffinesse. Die Verschwörer schrieben Weltgeschichte: Ohne die Hilfe Wilhelms II. für Lenin hätte es die Oktoberrevolution vor nunmehr 90 Jahren so nicht gegeben. Mehr noch: Ohne deutsche Unterstützung hätten Lenins Bolschewiki das entscheidende erste Jahr an der Macht kaum überstanden.
Vermutlich wäre keine Sowjetunion entstanden, den Aufstieg des Kommunismus hätte es dann nicht gegeben, auch die Millionen Gulag-Toten wären wohl nicht zu beklagen gewesen.
Zusammengehalten wurde die unheilige deutsch-russische Allianz von gemeinsamen Gegnern, gemäß der uralten Devise der Realpolitik, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Eine bequeme Logik, die meist eigene Versäumnisse verschleiern soll, so auch im Ersten Weltkrieg. Denn hätten die Deutschen ihre größenwahnsinnigen Kriegsziele im Osten revidiert, wären Lenins Dienste nicht nötig gewesen.
So aber konspirierte das Reich mit dem Anführer der Bolschewiki gegen Zar Nikolai II., Bündnispartner Frankreichs und Großbritanniens. Schließlich stand der Romanow einem deutschen Siegfrieden ebenso entgegen wie einer Machtübernahme Lenins.
Vier Jahre lang unterstützte Berlin die Bolschewiki und andere Revolutionäre in Russland mit Mark, Munition, Waffen und trug damit zum Ende der Zarenmonarchie bei. Mindestens 26 Millionen Mark, nach heutigem Wert rund 75 Millionen Euro, hat allein das Auswärtige Amt bis Ende 1917 dafür ausgegeben.
Als Zar Nikolai in der Februarrevolution 1917 schließlich stürzte und Lenin im Exil in der Schweiz festsaß, ermöglichten ihm die kaiserlichen Behörden mitten im Weltkrieg die Rückkehr in seine Heimat. "Lenin Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch", drahtete am 17. April 1917 der Leiter des deutschen Nachrichtendiensts in Stockholm an den Generalstab in Berlin. Denn nun ging es gegen die inzwischen amtierende Provisorische Regierung in Petrograd.
Ein halbes Jahr später eroberte Lenin in der Oktoberrevolution die Macht, auch mit deutscher Hilfe. Bald darauf schloss der neugegründete Sowjetstaat mit dem Reich einen Frieden, der den Deutschen Ruhe an der Ostfront und einen gigantischen Einflussbereich in Osteuropa einbrachte. Mission erfüllt - erst einmal jedenfalls.
Wilhelm träumte sogar von einer "Art Bündnis- oder Freundschaftsverhältnis" - gemeinsam gegen den Westen, wie zwei Jahrzehnte später Adolf Hitler und Josef Stalin.
Dass sie einander eigentlich an den Galgen wünschten, vergaßen die beiden Verbündeten trotz aller Absprachen nie. Die scheinbar paradoxe Folge: Der vom Kaiser gesponserte Lenin half deutschen Genossen bei der Vorbereitung einer eigenen Revolution gegen die Monarchie. Und Wilhelm II. wiederum unterstützte im russischen Bürgerkrieg nicht nur die Bolschewiki, sondern auch deren Gegner.
Heute ist das welthistorische Bündnis zwischen Sichel und Krone fast vollständig vergessen, obwohl schon vor Jahrzehnten hervorragende Studien zu dem Thema erschienen sind*.
Allerdings gibt es noch immer offene Fragen, insbesondere zum Ausmaß der deutschen Unterstützung für die Bolschewiki. Denn im Auswärtigen Amt wurden Quittungen für erfolgte Auszahlungen nach der Rechnungsprüfung vernichtet. Vieles
lässt sich nur auf dem Indizienwege belegen, und dafür muss an ungewöhnlichen Orten gesucht werden.
Der SPIEGEL hat das getan und ist bei Recherchen in mehr als einem Dutzend Archiven in ganz Europa auf bislang unbekanntes oder nicht ausgewertetes Material gestoßen: Analysen und Papiere der Sicherheitsbehörden Schwedens, der Schweiz und Großbritanniens, Unterlagen der preußischen Polizei, Vermerke im Archiv des Auswärtigen Amts und in russischen Archiven, Kontoauszüge Schweizer Banken.
Die dabei gefundenen Details ermöglichen es, jene Schattenwelt weiter auszuleuchten, in die sich die Diplomaten des Kaiserreichs begaben, als sie auf die Revolutionierung Russlands setzten.
Alles begann mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914. Obwohl Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolai II. Vettern waren, gehörten ihre Reiche unterschiedlichen Blöcken an: auf der einen Seite die Mittelmächte Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, auf der anderen die Entente aus französischer Republik, konstitutioneller britischer Monarchie und Russlands Autokratie - ein seltsames Bündnis, das nur die Sorge vor einer deutschen Hegemonie in Europa zusammenhielt.
Schon bald wurde deutlich, dass der Waffengang sich von allen bisherigen unterscheiden würde. Millionenheere prallten aufeinander, erstmals setzten die Generäle die ganze Wucht der industriellen Dynamik zum Töten von Menschen ein - und damit fiel die klassische Trennung zwischen Front und Heimat. Kein Wunder, dass die Strategen den Feind nicht nur in den Schützengräben zu besiegen suchten, sondern auch von innen heraus schwächen wollten. Die Anwendung "jedes Mittels, das geeignet ist, den Feind zu schädigen" sei Pflicht, notierte der Chef des deutschen Generalstabs Helmuth von Moltke.
Das Reichsschatzamt, so nannte sich damals das Finanzministerium, stellte daher Hunderte Millionen Mark zur Verfügung, um Marokkaner, Inder und andere Völker der Kolonialreiche gegen Paris und London aufzuwiegeln, die ihrerseits im Habsburger und im Osmanischen Reich Unruhe stifteten.
Auch das rückständige Zarenreich bot Ansatzpunkte für eine "Zersetzung des Feindlandes von innen" (Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg). Immer wieder hatten vor dem Krieg Hungersnöte die Bauern zu Revolten getrieben. In den russischen Städten lebten die Menschen unter erbärmlichen Bedingungen; die Einführung der 79-Stunden-Woche galt als Fortschritt. Schon 1905 hatte es deshalb eine Revolution gegeben, die der Zar blutig niederschlagen ließ.
Unter den über hundert Nationalitäten und ethnischen Gruppen des zaristischen Vielvölkerreichs gärte es weiter. Polen, Ukrainer, Esten, Finnen und andere Minderheiten träumten von eigenen Staaten, was den Deutschen nur recht war. Wilhelm II. verfolgte die sogenannte Orangenschalen-Strategie: Wie die Schale der Südfrucht vom Fruchtfleisch sollten die nichtrussischen Randgebiete von Kernrussland getrennt werden. Die dann neuentstehenden Staaten wollte der Kaiser unter deutsche Kuratel stellen - ein Schritt auf dem Weg zur Weltmacht.
So ging ein Geldsegen auf die zahlreichen Polit-Abenteurer nieder, die sich nach Kriegsausbruch bei deutschen Stellen meldeten. Vermeintliche und tatsächliche Zarengegner prahlten damit, sie könnten Meutereien in der russischen Schwarzmeerflotte
anstiften, Aufstände etwa in der Ukraine lostreten oder soziale Unruhen schüren.
Es war ein lukratives Geschäft auch für mögliche Aufschneider. Für eine "allgemeine Revolution gegen Russland" zahlte das Auswärtige Amt im September 1914 an zwei Männer von angeblich "großem Einfluss" 50 000 Mark in Gold. Weitere 2 Millionen in bar sollten bei Eintreten des Aufstands folgen - bis heute weiß niemand, wer die Gelder empfing. Später stiegen die Prämien sogar noch; da boten deutsche Diplomaten und Geheimdienstler Millionen für eine Rebellion allein in einem einzigen Gouvernement des Zarenreichs.
Denn es war eng geworden für Wilhelm II. und Co.: Die Generäle Seiner Majestät waren von einem Blitzsieg im Westen ausgegangen, der ihnen den Zweifrontenkrieg ersparen sollte. Als der Triumph gegen Frankreich ausblieb, versuchten der Kaiser und seine Minister den Zaren mit Unruhen gefügig zu machen; ein Sturz der Monarchie stand zunächst allerdings nicht auf dem Programm.
So ergab es sich auch eher zufällig, dass die deutschen Revolutionsstrategen im Herbst 1914 auf den Berufsrevolutionär (und Rechtsanwalt) Lenin aufmerksam wurden. Der kleingewachsene Mann mit dem rötlichen Haarkranz hatte seit der Jahrhundertwende überwiegend im westlichen Exil gelebt; bei Kriegsbeginn war er aus Österreich in die neutrale Schweiz nach Bern übergesiedelt.
Lenin, ein belesener und scharfzüngiger Marxist, stand damals an der Spitze einer linksradikalen Splittergruppe, die sich - ihrer tatsächlichen Größe zum Trotz - Bolschewiki (Mehrheitler) nannte.
Im russischen Parlament verfügten diese über gerade einmal eine Handvoll Abgeordnete, was Lenin allerdings nicht störte. Er wollte nicht durch Wahlen, sondern durch eine Revolution an die Macht gelangen.
Dass er diesem Ziel alles unterordnete, machte ihn für die Deutschen attraktiv. Vor allem aber hatte sich Lenin im Gegensatz zu vielen anderen Sozialisten nicht vom nationalen Taumel anstecken lassen, der im Sommer 1914 überall die Menschen erfasste. Er trommelte vielmehr für die Niederlage des Romanow-Zaren. Nach einem Sturz Nikolais II. würde die Weltrevolution (und drunter
wollte er es nicht machen) gleichsam automatisch in Gang gesetzt.
Der Hinweis auf Lenin kam von Alexander Kesküla, einem ehemaligen Bolschewiken aus Estland und einer der vielen Gestalten in der Grauzone zwischen revolutionären Russen und den Deutschen. Kesküla bot sich der deutschen Gesandtschaft in Bern als Propagandist für die Sache des Kaisers an. Er hoffte, die Deutschen würden sich für einen Anschluss des russisch beherrschten Estlands an Schweden einsetzen.
Kesküla schwankte allerdings in seinem Urteil über Lenin. Mal beklagte er, dieser tue zu wenig für die Revolution im Zarenreich. Dann wieder trommelte er dafür, "der Leninschen Richtung in Russland unverzüglich beizuspringen", und schwärmte den deutschen Diplomaten vor, der Bolschewik genieße unter Revolutionären in Petrograd und Moskau "das größte Ansehen". Er sei "gewissenlos" und verfüge über "brutalste und rücksichtsloseste Energie".
Später, als Kesküla begriffen hatte, dass die Deutschen eigene Interessen im Baltikum verfolgten, wechselte er auf die Seite der Entente und warnte diese vor Lenin - mit den gleichen Argumenten, wie aus bislang unbekannten britischen Akten hervorgeht.
Für seine Dienste erhielt Kesküla insgesamt 250 000 Mark, nur ein kleiner Teil davon landete nachweislich bei den Bolschewiki.
Dass Berlin Kesküla nicht in großem Stile einsetzte, um Lenin zu unterstützen, hatte einen einfachen Grund, wie deutsche Dokumente zeigen. Kesküla war trotz seiner bolschewistischen Vergangenheit ein theoretischer Kopf. Für die Logistik der Revolution brauchten die Deutschen hingegen Experten anderen Kalibers. Und im Januar 1915 stellte sich ihnen ein solcher zur Verfügung: Alexander Helphand, einer der bedeutendsten politischen Abenteurer des 20. Jahrhunderts.
Der Mann mit dem mächtigen Kopf und der "Statur eines Michelangelo-Sklaven mit etwas zu kurzen Beinen" (Biograf Winfried Scharlau) lebte bei Kriegsbeginn als wohlhabender Geschäftsmann in Konstantinopel, offenbar reich geworden durch die Hilfe, die er dem maroden Osmanischen Reich bei der Kriegsvorbereitung geleistet hatte. Der Sultan war im November 1914 an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eingetreten.
Helphands Vergangenheit sprach für die revolutionären Qualitäten des Salonsozialisten. Schon als Jugendlicher hatte sich der 1867 bei Minsk geborene Jude dem Sturz des damaligen Zaren verschrieben, weil dessen Regime Menschen mosaischen Glaubens unterdrückte. Zum Marxismus fand Helphand in der Schweiz, wo er wie viele andere oppositionelle Russen seiner Generation studierte. 1891 siedelte er nach Deutschland über und schloss sich der SPD an, die damals weltweit von Sozialisten für ihre politischen Erfolge bewundert wurde - Lingua franca unter Revolutionären vieler Länder war Deutsch.
Schnell erregte Helphand Aufmerksamkeit mit radikalen und wortgewaltigen Artikeln, die ihm den Ruf einbrachten, er könne ein zweiter Karl Marx werden. In ironischer Anspielung auf seine beträchtliche Leibesfülle wurde er "arvus" ("der Kleine") gerufen.
Die politisch motivierten Nachstellungen der deutschen Polizei zwangen Helphand bald zu einem Vagabundenleben; aus mehreren Bundesstaaten wurde er ausgewiesen, wie auch bislang unbekannte Unterlagen der preußischen Polizei im Berliner Landesarchiv belegen.
In München traf er Anfang des Jahrhunderts das erste Mal den drei Jahre jüngeren Lenin; dieser lernte in Helphands Wohnung Rosa Luxemburg kennen, eine Studienfreundin Helphands. In der Wohnung stand zeitweise auch die Druckerpresse für die Parteizeitung, die Lenin herausgab.
Allerdings blieb dessen Vision einer straff organisierten Kaderpartei aus Berufsrevolutionären, die allein über die ideologische Deutungshoheit verfügen sollten, Helphand zeitlebens fremd. Er tat sich lieber mit Leo Bronstein, Kampfname Trotzki, aus der Nähe von Cherson in der heutigen Ukraine, zusammen, dem genialen Organisator und späteren Vater des Sieges der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Trotzki lernte von Helphand, dass die Machteroberung des Proletariats kein "astronomisches Endziel", sondern "eine praktische Aufgabe unserer Zeit" sei.
Als 1905 in Russland die Revolution ausbrach, eilten beide in die alte Heimat; Trotzki setzte sich an die Spitze des Petersburger Sowjets, Helphand übernahm einen Teil der Presse. Er wollte "dem revolutionären Proletariat in Russland Bahn brechen, um die revolutionäre Energie des Proletariats im Westen zu stärken". Damals gab es im ganzen riesengroßen Russland allerdings nur gut zwei Millionen Industriearbeiter.
Ein Foto zeigt Helphand und Trotzki im Gefängnis der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg, wo sie nach der Niederschlagung des Aufstands einsaßen.
Helphand wurde nach Sibirien verbannt, konnte jedoch fliehen und tauchte im Winter 1906/07 wieder in Deutschland auf.
In der SPD hatte Helphand nie viele Freunde. Die deutschen Genossen störten sich an seinen radikalen Ansichten, seiner Schwäche für Frauen und seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Kindern, denen er die Alimente vorenthielt. Als er sich auch noch einem Parteiverfahren stellen musste, weil der Schriftsteller Maxim Gorki ihm vorwarf, Tantiemen unterschlagen zu haben, verließ Helphand das Reich und ging nach Konstantinopel. Dort wolle er wohl "die Polygamie an bester Quelle studieren", spotteten die Genossen.
Helphands Hass auf das Zarenreich muss während der Jahre am Bosporus übermächtig geworden sein, denn obwohl er in Deutschland weiterhin Persona non grata war, stand er bei Kriegsbeginn 1914 auf Seiten der Mittelmächte. Dem deutschen Botschafter in Konstantinopel schlug Helphand ein Zweckbündnis vor: "Die Interessen der deutschen Regierung sind mit denen der russischen Revolutionäre identisch." Der Diplomat verschaffte Helphand ein Entree beim Auswärtigen Amt in Berlin.
über den Ablauf der Gespräche dort Ende Februar 1915 ist nichts bekannt, wohl aber liegt der 23-seitige Plan zum Sturz des Zaren durch Massenstreiks vor, den der Revolutionsexperte in der Wilhelmstraße präsentierte.
Er hatte an ziemlich alles gedacht: die Agitation unter den Arbeitern in den Industrieregionen, die Verbindungen zu potentiellen Streikkomitees, das Aufwiegeln nationaler Minderheiten. Er wollte wichtige Brücken sprengen und die Ölquellen bei Baku in Brand setzen, politische Gefangene in Sibirien befreien, Flugblätter und Broschüren im Ausland drucken lassen und deren Transport nach Russland organisieren. Helphand verlangte sogar "verständliche Anweisung(en) über die Handhabung" von Sprengstoff.
Das Papier endete mit einer Liste der wichtigsten Aufgaben; an erster Stelle stand: "Finanzielle Unterstützung der sozialdemokratischen russischen Majoritätsfraktion (das sind die Bolschewiki -Red.) ... Die Führer sind in der Schweiz aufzusuchen."
Den eher vorsichtigen Außenstaatssekretär Gottlieb von Jagow und seine Experten muss der Plan sofort überzeugt haben, denn nur wenige Wochen später erhielt Helphand den von ihm verlangten Sprengstoff, einen deutschen Polizeipass, der ihm das Reisen erleichterte, und reichlich Geld: eine Million Mark.
Es müssen noch weitere Beträge gewesen sein, in einem bislang unbekannten handschriftlichen Vermerk aus dem Auswärtigen Amt vom Jahresende 1915 ist nämlich von mehreren "Zahlungen" an Helphand die Rede. Dazu passt, dass das Reichsschatzamt im Frühjahr und Sommer 1915 Millionenbeträge für die Revolutionierung Russlands dem Auswärtigen Amt bewilligte.
Der Geldtransfer - mal bar, mal per überweisung - lief über ein Büro in der Berliner Wilhelmstraße, eine Art Zentralstelle für inoffizielle Mitarbeiter des Auswärtigen Amts. Der Generalstab hatte es für Geheimdienstoperationen gegründet, die "auf privatem Wege, aber mit Unterstützung
aller zuständigen Behörden" durchgeführt werden sollten.
Dabei scheint niemand in der Regierungszentrale auf die Idee gekommen zu sein, dass ein Sturz des Zaren auch Rückwirkungen auf die deutsche Monarchie haben könnte, deren Demokratisierung überfällig war. Wenn man erst siegreich aus dem Weltkrieg hervorgegangen sei, notierte vielmehr der Gesandte in Kopenhagen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau, mit Blick auf die Arbeiterschaft, könne man auch solche "Elemente zur Mitarbeit heranziehen und um den Thron scharen", die bislang abseitsgestanden hätten. Lenin als Reformersatz.
Brockdorff-Rantzau, aus altem Adel und nie ohne Siegelring, brachte es später in der Weimarer Republik sogar noch zum Außenminister.
Ende Mai 1915 traf Helphand in Bern ein, um - wie angekündigt - mit Lenin zu sprechen. Er erschien in einem der russischen Restaurants der Stadt, in dem auch der Bolschewik verkehrte, und ließ sich an dessen Tisch führen. Gemeinsam gingen sie dann in Lenins Wohnung. Beide berichteten hinterher von dem Vieraugengespräch, dass sie sich nicht hätten einigen können.
Helphand behauptete, er habe Lenin gedrängt, die Revolution in Russland voranzutreiben, doch der Bolschewik "träumte von der Herausgabe einer kommunistischen Zeitschrift, mit der er unverzüglich das europäische Proletariat aus den Schützengräben heraus und in die Revolution hineintreiben zu können glaubte".
Lenin hingegen will den Besucher als deutschen Sozialchauvinisten beschimpft und ihn "mit dem Schwanz zwischen den Beinen" die Tür gewiesen haben.
Aber stimmt das auch?
Der Bolschewik hatte Grund, eine Verbindung mit Helphand abzustreiten. Dieser galt unter Genossen als Spekulant und Betrüger; Rosa Luxemburg hatte ihm bereits die Freundschaft gekündigt, Trotzki ebenfalls. Es waberten Gerüchte, er sei deutscher Agent, und den Verdacht, für die deutsche Seite zu arbeiten, konnte sich kein russischer Politiker leisten.
Einige Indizien sprechen immerhin für Lenins Version. Dieser lebte nach dem Treffen weiterhin in bescheidenen Verhältnissen; Geldmangel war ein ständiges Thema seiner Briefe. Und Helphand wiederum erklärte seinen deutschen Auftraggebern, eine Unterstützung Lenins sei erst möglich, wenn zwischen ihnen "die bestehende Spannung sich ausgeglichen hat".
Einen Teil der Gelder aus dem Auswärtigen Amt hat Helphand denn auch aller Wahrscheinlichkeit nach in Wertpapieren angelegt, statt sie für die Revolution auszugeben - diesen Rückschluss lassen Kontounterlagen im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern zu. Die Schweizer Polizei hatte sie 1919 beschlagnahmt.
Andererseits zeigen diese Belege, dass es durchaus Bolschewiki gab, die von Helphand Geld nahmen, allerdings nur einige tausend Schweizer Franken. Auch schrieb im Rückblick Walter Nicolai, der deutsche Geheimdienstchef, Lenin habe "meinem Nachrichtendienst wertvolle Nachrichten über die Zustände im ... zaristischen Russland geliefert".
Vor allem spricht das Netzwerk, das Helphand nach dem Gespräch mit Lenin aufzog, gegen die These von der bolschewistischen Unschuld. Denn an den Knotenpunkten finden sich immer wieder führende Revolutionäre der Lenin-Partei. Moissej Urizki etwa, nach der Oktoberrevolution Chef der Petrograder Geheimpolizei (Tscheka), arbeitete für Helphand; auch Jakob Fürstenberg, einer der engsten Vertrauten Lenins und nach der Oktoberrevolution Leiter der sowjetischen Nationalbank, oder der diskrete Anwalt Mieczyslaw Koslowski, der die Tscheka mitbegründete. Man kannte sich und Parvus aus der Exilzeit, war untereinander oft verwandt, was die Bereitschaft zu Loyalität und Verschwiegenheit noch verstärkte.
Als Stützpunkt wählte Helphand Kopenhagen, operierte aber auch von Stockholm aus, denn Dänemark wie Schweden blieben während des Ersten Weltkriegs neutral, und Schweden hatte damals noch eine gemeinsame Grenze mit Russland. Von hier aus ließ sich die Revolution leichter vorantreiben.
Schon im August 1915 schwärmte ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts von der "genialen Weise", in der Helphand seine Aufgabe anging. In Absprache mit den Diplomaten gründete er ein Exportunternehmen, das sich den Zusammenbruch des Osthandels infolge des Kriegs zunutze machen sollte: die "Handels- og Exportkompaniet A/S". Helphands Teilhaber wurde ein Berliner Kaufmann, der im Sold des deutschen Nachrichtendienstes stand; und Lenins Vertrauter Fürstenberg, ein polyglotter Finanzakrobat von hoher Verschwiegenheit, übernahm die Geschäftsführung.
Für die deutschen Revolutionsexperten war das kein ungewöhnliches Arrangement. Sie verbargen häufig Parteispenden hinter kommerziellen Aktivitäten. Einem anderen Genossen kaufte man das Patent für einen Sterilisierungsapparat ab, damit er seinen plötzlichen Wohlstand erklären konnte, den er für die Sache des Sozialismus einsetzte.
Höchste Erwartungen waren mit Helphands Unternehmungen verbunden, wie in Kopenhagen der Gesandte Brockdorff-Rantzau notierte: "Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist unser, wenn es gelingt, Russland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition zu sprengen." Nun setzte Berlin nicht mehr nur darauf, den Zaren durch Unruhen unter Druck zu setzen, sondern nahm auch dessen Sturz in Kauf.
Helphand knüpfte Verbindungen in die USA, die Niederlande, nach Großbritannien und natürlich Russland. Teils legal, teils mit Hilfe falscher Deklarierungen und durch Schmuggel im- und exportierte er ins oder aus dem Zarenreich Buntmetalle und Chemikalien, gebrauchte Autos und Fischereifahrzeuge, Medikamente, Kondome, Kognak, Kaviar, Bleistifte, Getreide, Walöl und vieles mehr.
Und überall stößt man auf Bolschewiki: Das Unternehmen, welches die Waren jenseits der russischen Grenze auf dem Schwarzmarkt verkaufte, beschäftigte als Justitiar den Rechtsanwalt Koslowski. Die Buchhalterin, welche die Erlöse nach Kopenhagen beziehungsweise Stockholm transferierte, war mit Fürstenberg verwandt. In den Bankhäusern, über welche die finanziellen Transaktionen liefen, saßen in hohen Positionen Bolschewiki.
Kaum anzunehmen, dass Lenin dieses Netzwerk nicht genutzt hat, um Geld nach Petrograd bringen zu lassen oder auch einen Teil der in Russland erzielten Erlöse in die Parteikasse zu lenken. Bezeichnenderweise fand sich später die Firmenadresse des Helphandschen Unternehmens in Lenins schmalem Adressbuch. Und Geschäftsführer Fürstenberg, das geht aus schwedischen Ermittlungsakten hervor, reiste regelmäßig nach Russland.
Sicher ist: Für die Revolutionsarbeit brauchten die Bolschewiki Geld. Wie eine
hässliche Narbe zog sich damals die Ostfront vom Baltikum quer durch Europa bis ans Mittelmeer. Gut 1000 Kilometer mussten die Revolutionäre von Stockholm nach Norden fahren, bis nach Haparanda, einem kleinen Ort an der schwedisch-russischen Grenze, nahe am Polarkreis.
Das heute langweilige Nest war während des Ersten Weltkriegs ein Dorado für Schmuggler und Agenten, der einzig offene Verbindungsweg Russlands in den Westen und Hauptumschlagsplatz für Waren und Nachrichten.
Eine gutbewachte, nur tagsüber freigegebene Holzbrücke für Fußgänger führte über den zeitweise reißenden Grenzfluss Torneälv, den auch Fährschiffe überquerten. Die russischen Beamten mussten geschmiert, mit falschen Papieren überlistet oder auf andere Weise geleimt werden. Briefe Lenins wurden in eigens präparierten Schuhen oder im Korsett versteckt. Größere Mengen Propagandaliteratur vertrauten die Bolschewiki einem Schuhmacher in Haparanda an, der gemeinsam mit einheimischen Genossen die Bücher und Zeitschriften durch das Flussdelta schmuggelte. Im Winter brachten Schlitten die revolutionäre Fracht über das Eis. "Ich bringe Grüße von Olga" lautete das Kennwort unter Eingeweihten.
Jenseits der Grenze führte die Route dann weitere 1000 Kilometer durch das russische Großfürstentum Finnland Richtung Süden nach Petrograd.
Später verklärte die sowjetische Propaganda die Bolschewiki zu Superrevolutionären, was kalte Krieger im Westen gern glaubten. Doch ideologisch unverdächtige Beobachter berichteten von Korruption unter den Genossen. Lieferungen mit Flugblättern und Büchern gingen verloren; einer der Kuriere nahm auf eigene Faust alles heraus, was er für militärische Geheimnisse hielt, um unbedarfte Parteifreunde auf der finnisch-russischen Seite nicht zu gefährden.
Auch zeigte sich die zaristische Geheimpolizei erstaunlich gut informiert, wie aus Dokumenten hervorgeht, die von der Publizistin Elisabeth Heresch in Moskau entdeckt wurden**. Unter Historikern ist daher umstritten, in welchem Ausmaß deutsche Zahlungen an die Bolschewiki das Zarenreich destabilisierten.
Selbst Helphand erlitt Rückschläge. Der dicke Großkaufmann, mittlerweile Ende vierzig und schon etwas kurzatmig, hatte seinen Geldgebern angekündigt, im Januar 1916 werde der Sturm losbrechen, denn dann jährte sich der Ausbruch der Revolution von 1905. Seine revolutionäre Organi-
sation sei in der Lage, in Petrograd "binnen 24 Stunden mindestens 100 000 Arbeiter" mobilzumachen. Für eine komplette Revolution veranschlagte er 20 Millionen Rubel (umgerechnet etwa 134 Millionen Euro) und ließ sich zunächst einmal von Feldjägern eine Million in bar nach Kopenhagen bringen. Doch das Datum verstrich, und die große Rebellion blieb aus.
Andererseits fällt auf, dass manche Punkte aus Helphands großem Plan Wirklichkeit wurden: Er hatte vorgeschlagen, mit Sabotagekommandos den Nachschub der Alliierten für Russland zu unterbinden. In der Tat flogen in Archangelsk Schiffe in die Luft, und es kam zu Bränden im Hafen. Die Ermittlungsbehörden glaubten, deutsche Agenten stünden hinter der Tat.
Zudem hatte Helphand politische Streiks in den Putilow-Fabriken in Petrograd und Arbeitsniederlegungen in Nikolajew in Aussicht gestellt; das Geld der Deutschen sollte hier und anderswo in die Streikkasse fließen. Und tatsächlich: In beiden Orten gingen Arbeiter auf die Straße. Auch hier vermuteten Beamte des Zaren deutsche Hintermänner. Die Auszahlung von Streikgeldern über Wochen hinweg könnte auch erklären, wo ein Teil der Millionen geblieben sind, die Helphand kassierte.
Als der Zar abgedankt hatte, nach der Februarrevolution 1917, lobte der Gesandte Brockdorff-Rantzau, Helphand habe "als einer der Ersten für den Erfolg gearbeitet, der jetzt erzielt ist".
Den bedeutendsten deutschen Beitrag zum Ende Nikolais II. lieferten allerdings nicht Agenten, sondern die Militärs. Im Herbst 1916 stand das deutsche Heer tief auf dem Territorium des Zarenreichs. Hunderttausende russische Soldaten waren gefallen. Und unter dem andauernden Druck des Kriegs brach die russische Wirtschaft zusammen.
Ende 1916 mussten Betriebe die Produktion einstellen, weil es an Roh- und Brennstoffen mangelte. Auf dem Land fehlte es an Bauern und Pferden. In Petrograd und Moskau wurden die Mehlvorräte knapp.
Zunächst demonstrierten die Arbeiter; am 8. März 1917 - dem Internationalen Frauentag - schlossen sich in Petrograd Tausende Frauen an, die vor Lebensmittelläden Schlange standen. Das war, so der Historiker Heiko Haumann, "der Durchbruch zur Revolution"*. Einem Steppenbrand gleich griff der Protest auf das ganze Reich über. Der völlig überforderte Zar musste den Thron aufgeben.
An die Stelle der Romanows trat die Doppelherrschaft; mit der gemäßigt konservativen Provisorischen Regierung, welche über den Staatsapparat verfügte, und dem linken Petrograder Rat (= Sowjet) der Arbeiter und Soldatendeputierten. In ihm spielten die Bolschewiki zunächst nur eine Nebenrolle.
Die neuen Machthaber etablierten das liberalste Regime, das Russland bis dahin gehabt hatte: mit Koalitions-, Versammlungs-, Pressefreiheit. Das Reich befand sich "auf dem besten Wege zu einer demokratischen Regierungsform", urteilt der Historiker Manfred Hildermeier. Den Krieg allerdings wollte man nicht beenden, solange der Preis dafür die deutsche Hegemonie in Osteuropa war.
Für Lenin kam die ganze Entwicklung überraschend. Anfang 1917 hatte der 46-Jährige noch erklärt, seine Generation werde vermutlich die Revolution nicht mehr erleben. Nun - nach dem Sturz des Zaren - saß er in der Schweiz fest, "eingepfropft wie in einer Flasche" (Helphand).
Eine Rückkehr über Frankreich oder England blieb ausgeschlossen; die EntenteMächte hatten kein Interesse daran, ausgerechnet Lenin nach Russland zu lassen, der ein sofortiges Ausscheiden seines Landes aus dem Krieg verlangte. Davon abgesehen fürchteten Lenin und Genossen, bei einer Fahrt über Nord- und Ostsee versehentlich von deutschen U-Booten torpediert zu werden.
Mal erwog Lenin, sich als taubstummer Schwede auszugeben und inkognito durch Deutschland zu reisen, mal mit einem Flugzeug heimlich über die Ostfront zu fliegen. Am Ende schloss er sich dem Vorschlag anderer linker Emigranten aus Russland und Polen an, die für die Fahrt mit der Eisenbahn durch Deutschland und Skandinavien plädierten. Ein riskantes Unterfangen, denn dieser Schritt konnte nur mit Zustimmung der kaiserlichen Behörden erfolgen, und Lenin und die anderen fürchteten, sich zu kompromittieren.
Einige wollten daher warten, bis die Provisorische Regierung in Petrograd zustimmte. Lenin nicht. Er bat den Schweizer Sozialisten Fritz Platten, mit ihm zu reisen und vorher dem deutschen Gesandten in Bern seine Bedingungen zu übergeben. Die wichtigsten Punkte lauteten:
* "mit deutschen Organen verkehrt ausschließlich Platten, ohne dessen Erlaubnis keine einzige Persönlichkeit den dauernd geschlossenen Wagen betreten darf";
* "dem Wagen wird das Recht der Exterritorialität zuerkannt";
* "für die Fahrenden löst Platten nach den normalen Tarifen die Fahrkarten".
So konnte Lenin behaupten, mit keinem Deutschen gesprochen und die Reise aus eigener Tasche finanziert zu haben.
In der Berliner Führung erhob niemand Einwände, nicht Reichskanzler Bethmann Hollweg und auch nicht Paul von Hindenburg, Chef der Obersten Heeresleitung, dessen Zustimmung das Auswärtige Amt schon aus logistischen Gründen benötigte.
Es war bekannt, dass die Westmächte ihrerseits mit Millionen jene politischen Parteien stärkten, die den Krieg fortsetzen wollten. Hindenburgs Generalmajor Max Hoffmann schrieb später: "Ebenso wie ich Granaten gegen den feindlichen Schützengraben schieße, wie ich Giftgas gegen ihn abblase, habe ich als Feind das Recht, die Mittel der Propaganda gegen seine Besatzung anzuwenden."
Und Wilhelm II.? Er erfuhr von der Reise aus der Presse und regte - wie stets egozentrisch und naiv - sogleich an, den Revolutionären eine seiner Reden und anderes Propagandamaterial mitzugeben - "damit sie in ihrer Heimat aufklärend wirken". Dazu kam es nicht.
Mit 31 Personen machte sich Lenin am Ende auf den Weg, darunter auch mehrere Mitglieder anderer linker Splittergruppen und Familienangehörige.
Eigentlich sollte die Abfahrt ohne Aufsehen erfolgen, aber auf dem Zürcher Bahnhof ging es dann munter zu, wie der deutsche Militärattaché beobachtete. Etwa hundert Russen hatten sich versammelt, die einen "schimpften wie die Rohrspatzen, sie brüllten, die Reisenden seien alle deutsche Spitzel und Provokateure, oder ,man wird euch alle aufhängen, ihr Judenhetzer'". Ein junger Russe tat sich besonders hervor und rief immer wieder "rovokateure, Lumpen, Schweine". Als der Zug ausfuhr, sangen jedoch die Parteifreunde Lenins auf dem Bahnsteig die "Internationale".
über Berlin führte der Weg dann nach Sassnitz auf Rügen, wo die Fähre nach Trelleborg, der schwedischen Hafenstadt, ablegte. Zwei Tage dauerte die Reise bis zur Ostsee-Insel.
Später hieß es, der wohl berühmteste Zug der Weltgeschichte sei plombiert gewesen, was Winston Churchill spotten ließ, Lenin wäre "wie ein Pest-Bazillus" transportiert worden. Doch das stimmt nicht. Wohl waren drei Türen des Waggons plombiert, aber die vierte nutzten Platten und die beiden begleitenden deutschen Offiziere, um Milch für die Kinder entgegenzunehmen oder Zeitungen zu kaufen. Ein Kreidestrich auf dem Boden markierte die Trennung zwischen den "exterritorialen" Abteilen der Russen und denen der Deutschen.
Die Reisenden vertrieben sich die Langeweile mit dem Absingen französischer Revolutionslieder, was Platten schließlich untersagte, weil er Ärger mit den Deutschen fürchtete. Lenin übte sich derweil in der Planwirtschaft. Da die Raucher unter den Reisenden immer wieder die Toilette blockierten, schnitt er Bezugskarten zu. Nur mit einer Raucherkarte durfte man im Kabuff qualmen.
Bereits Fritz Fischer wies 1961 in seinem Klassiker "Griff nach der Weltmacht" darauf hin, dass die Deutschen einen Frieden auch mit der Provisorischen Regierung hätten schließen können. Schon aus wohlerwogenem Eigeninteresse: Der Kriegseintritt der USA stand unmittelbar bevor; ein Frieden an der Ostfront wurde sofort gebraucht. Und zwar ein Frieden, den man nicht noch militärisch sichern musste, weil er den Deutschen fast ganz Osteuropa zusprach. Für einen solchen Frieden - ohne Annexionen - hätte die deutsche Führung allerdings den Traum von der Weltmacht aufgeben müssen, und dazu war sie nicht bereit. Stattdessen wählte Berlin weiterhin den bequemen Weg: das Bündnis mit dem Feind des Feindes.
Jakob Fürstenberg - der Geschäftspartner Helphands und Vertraute Lenins - nahm die Gruppe in Trelleborg in Empfang. Nach einigen Tagen in Stockholm ging die Reise mit der Bahn über den Grenzort Haparanda nach Russland; entgegen allen Befürchtungen ließ die Provisorische Regierung das zu. Am Abend des 16. April gegen 23 Uhr traf Lenin in Petrograd ein.
Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat und Lenins Parteifreunde
bereiteten ihm einen großen Empfang: rote Fahnen, Musikkapellen, ein Spalier aus Arbeitern und Soldaten auf dem geschmückten Bahnsteig.
Während der Reise hatte Lenin aus der Parteizeitung "rawda" erfahren, dass die Petrograder Bolschewiki den Krieg fortsetzen und die Provisorische Regierung stützen wollten, weil sie Russland noch nicht reif für den Sozialismus hielten.
Noch in der gleichen Nacht verkündete Lenin einen neuen Kurs: Die Verteidigung des Vaterlands sei "kleinbürgerlich" und ein "Betrug der Bourgeoisie an den Massen". Nein zum Krieg, nein zur Provisorischen Regierung, Fortsetzung der Revolution. War in Russland erst die Diktatur des Proletariats errichtet, so glaubte Lenin, würde die Weltrevolution folgen. Einen Monat später hatte er seine Partei auf Kurs gebracht.
Für Helphand muss der Richtungswechsel ein später Triumph gewesen sein, denn mit der Forderung, die Macht sofort "in die Hände des Proletariats" zu legen, übernahm Lenin eine Position, die Helphand einst Trotzki nahegebracht hatte.
Aus deutscher Sicht erwies sich der Transfer Lenins als die wohl wichtigste Revolutionsmaßnahme. Sie allein rechtfertigt die These, dass die Bolschewiki ohne deutsche Hilfe nicht im Herbst 1917 an die Macht gelangt wären. Denn der Parteiführer begriff schneller als alle Rivalen, dass sich die Auflösung der russischen Gesellschaft nicht stoppen ließ, wenn man die
großen Fragen hinausschob: die Bodenreform, die Regelung der Nationalitätproblematik, die Friedensfrage.
Anzeichen von Anarchie waren bereits unübersehbar. In Depeschen des Auswärtigen Amts häuften sich Berichte über erschlagene Gutsbesitzer und grausige Fälle von Lynchjustiz. Anfang Juli notierten deutsche Diplomaten in Stockholm, was sie über die Lage in Petrograd erfahren hatten: "Die Geschäfte sind in sehr schlimmer Verfassung, und die Stadt steht vor dem Bankrott. Die Lebensmittelverhältnisse haben sich immer mehr verschlechtert, die Ansammlungen vor den Läden werden immer größer."
Die Brotration betrug 200 Gramm pro Tag; gleichzeitig brach die Industrieproduktion ein, und die Preise explodierten. An der Front nahmen die Soldaten, meist Bauern, ihr Schicksal selbst in die Hand. Zermürbt vom Hunger und dem Grabenkrieg desertierten Hunderttausende, oft gelockt von der Nachricht, dass in der Heimat das Land aufgeteilt werde.
Die Berliner Regierung registrierte erfreut, dass Lenins Forderungen nach Frieden und Landverteilung großen Zulauf fanden. "Lenins Propaganda ist von der Art, welche sich bei der großen Masse am wirkungsvollsten erweist", heißt es in einem Lagebericht vom 5. Juli 1917. Einige Tage später notierte der Gesandte in Stockholm, aus Russland eingehenden Berichten zufolge sei "die Zeit nicht mehr fern, wo die Lenin-Gruppe ans Ruder kommt und damit der Friede ... da wäre".
Es verwundert nicht, dass Kanzler Bethmann Hollweg und Generalfeldmarschall Hindenburg den Auflösungsprozess nach Kräften unterstützten. Sie ließen weitere Züge aus der Schweiz mit Hunderten Revolutionären passieren und kurbelten die Propaganda an, wie aus den deutschen Akten hervorgeht. Das Reichsschatzamt hatte noch kurz vor Lenins Rückkehr weitere fünf Millionen Mark dem Auswärtigen Amt bewilligt.
Außenstaatssekretär Richard von Kühlmann notierte später, die Mittel seien "auf verschiedenen Kanälen" den Bolschewiki zugegangen. Das Netzwerk von Helphand war mit großer Wahrscheinlichkeit einer davon. Helphands Geschäftsführer Fürstenberg zählte inzwischen zur zentralen Auslandsvertretung der Bolschewiki mit Sitz in Stockholm. Ein anderer dürfte über den Historiker und langjährigen Redakteur der "Frankfurter Zeitung" Gustav Mayer gelaufen sein, der im Auftrag des Auswärtigen Amts in der schwedischen Hauptstadt weilte. Mayer hatte über die Geschichte der Arbeiterbewegung geforscht und kannte auch Karl Radek, Leiter der bolschewistischen Auslandsvertretung. Radek ließ Mayer in Stockholm sogar an einer Sitzung der Genossen teilnehmen.
Staatssekretär Kühlmann prahlte gegenüber Hindenburg und dem Kaiser, dass die bolschewistische Bewegung ohne die
"stetige weitgehende Unterstützung" des Auswärtigen Amts "nie den Umfang annehmen und sich den Einfluss (hätte) erringen können, den sie heute besitzt". Erst das deutsche Geld habe es den Bolschewiki "ermöglicht, die ,Prawda' ... auszugestalten, eine rege Agitation zu betreiben und die anfangs schmale Basis ihrer Partei zu verbreitern".
Ganz so war es dann doch nicht. Die Provisorische Regierung, geführt von Alexander Kerenski (wie Lenin Rechtsanwalt, er starb allerdings erst 1970 im amerikanischen Exil), hatte Mitte Juli zum großen Schlag gegen die Bolschewiki ausgeholt, nachdem militante Parteiaktivisten einen Staatsstreich versucht hatten. Führende Bolschewiki wurden verhaftet, Zeitungen verboten, Dutzende von Personen verhört. Dabei ging es auch um deutsche Gelder.
Sowohl aus der Menge des verbrauchten Papiers wie den Abrechnungen der Druckerei ergibt sich, dass die Auflage der "rawda" im Frühling 1917 relativ konstant bei etwa 80 000 Exemplaren pro Tag lag - während der deutsche Außenstaatssekretär von 300 000 ausging.
Aus den Unterlagen geht allerdings auch hervor, dass Propaganda günstig war. So kostete beispielsweise der Druck von einer halben Million Flugblätter lediglich 1153 Rubel, umgerechnet etwa 2500 Mark (Stand 1915). "Schon mit kleinen Subventionen", so die Moskauer Expertin Olga Iwanzowa, "ließ sich also viel erreichen."
Unabhängig davon warfen Helphands Unternehmungen 1917 in Russland mehrere Millionen Rubel ab, von denen bis heute nicht geklärt ist, welcher Anteil an die Bolschewiki ging.
Nach Petrograder Polizeiunterlagen, die die Publizistin Heresch aufgetan hat, setzte Lenin einen Teil des Geldes recht plump ein. Eine Krankenschwester sagte vor Ermittlern aus, sie habe gesehen, wie Bolschewiki Rubelmünzen an Passanten austeilten, um diese für eine Demonstration zu gewinnen. Man habe den Leuten dann Plakate mit Aufschriften wie "Nieder mit der Provisorischen Regierung!" in die Hände gedrückt.
Vielen Russen brauchte man allerdings kein Geld zu geben, um sie gegen die Provisorische Regierung zu mobilisieren. Denn diese reihte Fehlentscheidung an Fehlentscheidung. Sie schob die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung, welche die großen Fragen angehen sollte, immer weiter hinaus. Auf Druck des französischen Verbündeten versuchte sie sogar eine neue Offensive, die nach drei Tagen abgebrochen werden musste, weil sich die Soldaten verweigerten.
Da die Bolschewiki am wenigsten Verantwortung für das Chaos zu tragen schienen, wurde ihre Position in den Sowjets und unter den Soldaten immer stärker. Ende September drängte Lenin die zögernden Genossen zum bewaffneten Aufstand. In Leo Trotzki (den Rivale Stalin 1940 mit einem Eispickel erschlagen ließ) fand er einen talentierten Heerführer.
Um diese Zeit erhielten auch die Deutschen einen vagen Hinweis. Lenins Auslandschef Radek erklärte einem Verbindungsmann der Deutschen, dass der Herbst nahe: "Wer Russland kennt, der weiß, dass sich in dieser Zeit große Ereignisse abwickeln dürften. Auch wir Bolschewiki rüsten uns für sie."
Die Parteispitze wollte weiterhin abwarten, doch als die Soldaten der Garnison in der Hauptstadt auf Lenins Kurs einschwenkten, setzte dieser sich durch - vielleicht sogar in Absprache mit den Deutschen. Einer der Berliner Revolutionsexperten brach jedenfalls eine Dienstreise ab "wegen der bevorstehenden Bolschewikirevolution", wie er später seinem Tagebuch anvertraute.
In der Nacht zum 7. November - nach russischem Kalender der 25. Oktober - besetzten die Garnisonsregimenter und die Roten Garden, alles in allem nicht mehr als 20 000 Mann, morgens um zwei Uhr die strategisch wichtigen Punkte; die Gegenwehr war gering und die Machtfrage entschieden. Mit der Verhaftung der Minister der Provisorischen Regierung im Winterpalais in der folgenden Nacht endete die sogenannte Oktoberrevolution.
Lenin trat an die Spitze einer Regierung, die sich "Rat der Volkskommissare" nannte.
Für Russland begann damit der wohl schrecklichste Abschnitt seiner Geschichte, der erst 1991 nach unsäglichen Opfern endete. Für die Deutschen hingegen schien sich das Bündnis mit Lenin gelohnt zu haben. Anfang Dezember 1917 verhandelten beide Seiten bereits über einen Waffenstillstand.
"Die Bolschewiki sind großartige Kerle und haben alles bisher sehr schön und brav gemacht", schrieb der Diplomat Kurt Riezler, der inzwischen die Russlandpolitik maßgeblich bestimmte. Doch alles hing davon ab, dass sich Lenin an der Macht hielt. Und dafür waren die Minister Seiner Majestät bereit, erneut tief in die Taschen zu greifen. KLAUS WIEGREFE; FLORIAN ALTENHÖNER,
GEORG BÖNISCH, HEIKO BUSCHKE,
WLADIMIR PYLJOW, ANIKA ZELLER
* Winfried B. Scharlau, Zbynek A. Zeman: "Freibeuter der Revolution. Parvus - Helphand". Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1964; 382 Seiten.
* "Habe am 29. Dezember 1915 eine Million Rubel in (...) Banknoten zur Förderung der revolutionären Bewegung in Russland von der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen erhalten. Dr. A. Helphand".
** Elisabeth Heresch: "Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution". Langen Müller Verlag, München; 400 Seiten; 24,90 Euro.
* Heiko Haumann (Hg.): "Die Russische Revolution 1917". Böhlau Verlag, Köln; 182 Seiten; 12,90 Euro.
* Truppen der Provisorischen Regierung schießen im Juli 1917 auf Bolschewiki.
Von Klaus Wiegrefe, Florian Altenhöner, Georg Bönisch, Heiko Buschke, Wladimir Pyljow und Anika Zeller
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-54230885.html |
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